Gelesen von Stefan Franke
Man sagt den Frauen nach, dass sie überaus findig seien in Anwendung kleiner Hilfsmittel, im Auffinden kleiner Ersatzwerkzeuge für Handgriffe, wenn das eigentliche Gerät nicht zur Hand ist. Welche Frau würde z. B. nicht sofort ihren Schuh ausziehen und den Hacken als Hammer verwenden, wenn sie zum Nageleinschlagen gerade keinen Hammer zur Hand hat?
Eines der beliebtesten Werkzeuge in Frauenhand ist aber wohl die Haarnadel. Geradezu uferlos ist die Verwendung dieses nützlichen Gegenstandes neben und außer seiner eigentlichen Bestimmung. Als Schuhknöpfer und Schließe, als Schnürnadel und wer weiß was sonst noch alles muss die geduldige Haarnadel herhalten – mag sie, das ist Geschmackssache.
Nur gegen eine Verwendung, die man öfter zu beobachten Gelegenheit hat, muss laut und energisch protestiert werden. Gehen Sie einmal über den Markt oder durch die Markthalle, verehrte Leserinnen, und werfen Sie einen Blick auf die behäbig vor ihren Butter- und Eierkörben sitzenden Bauersfrauen. Da tritt eine Käuferin heran und fragt nach Butter; preisend, mit viel schönen Reden weist die Händlerin auf den goldigen Klumpen, den sie bewacht.
„Probieren Sie mal!“, heißt’s dann weiter, und flink, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, greift die Hand der Käuferin nach ihrem Haaraufbaue, entzieht demselben eine Haarnadel und fährt mit dieser in den Butterklumpen, ein Stückchen des goldigen Fettes entnehmend, es zum Munde führend und mit Kennermiene kostend. Nach Benutzung wird die Haarnadel wieder ins Haar versenkt … So zu sehen – nicht ganz selten – auf unseren Märkten.
Wird die Haarnadel nicht zu Hilfe genommen, so tut’s auch ein durchaus nicht immer einwandfreier Finger mit deutlicher Halbtrauer an den Nägeln … Die Händlerin sieht seelenruhig zu – ihr verschlägt das Verfahren augenscheinlich nicht wie anderen Leuten den Appetit an ihrer Butter. Jedenfalls sollten „andere Leute“, die den oben beschriebenen Anblick genießen, aber um den Stand einer Händlerin, die dergleichen Unappetitlichkeiten duldet, weit herumgehen.
Muss durchaus die Butter probiert werden, so mag ein sauberes Messerchen dazu dienen; die Finger oder gar die beliebten Haarnadeln dazu zu gebrauchen, ist eine Unsauberkeit, die nicht scharf genug an den Pranger gestellt werden kann, und die man einfach mit einer Geldstrafe belegen sollte!
Gezeichnet: Frau L. M.
21. Mai 1911