Audiothek

Die engen Kleider

12. August 1910 · Illustrirtes Wiener Extrablatt
Stefan Franke

Gelesen von Stefan Franke

Eine Szene auf dem Stephansplatz.

Zwei elegante junge Damen hatten vorgestern auf dem Stephansplatz ein unangenehmes Erlebnis, das sie den allerdings über alle Maßen eng zusammengeschnürten Schoßen ihrer Kleider zu danken hatten. Einige Passanten machten sich mit Blicken und Gebärden lustig über die Kleider der Damen, andere folgten diesem gerade nicht sehr taktvollen Beispiele, und innerhalb weniger Sekunden sahen sich die beiden Damen von einer zahlreichen Menschenmenge umringt und verfolgt, aus deren Mitte manche hämische Bemerkung über die neueste Damenmode zu hören war.

Man kann sich die peinliche Situation der Damen vorstellen, die so unerwartet sich zum Mittelpunkt einer Art von Volksbelustigung gemacht sahen. Es nützte ihnen nichts, dass sie in die Goldschmiedgasse einbogen; auch dorthin wurden sie verfolgt. Nun flüchteten sie in ein Haus, dessen Portier das Tor schloss, um die Damen zu schützen. Die Menge blieb aber unerbittlich vor dem Haustor stehen und sechs Wachmänner, die infolge der Menschenansammlung herbeigekommen waren, vermochten kaum, die Menge zum Verlassen des Platzes zu bewegen. Ein Herr aus dem Publikum war so resolut und galant, die Damen aus ihrer peinlichen Situation zu befreien, indem er ein Autotaxi holte, in welches die Damen einstiegen.

Nett und liebenswürdig war ja das Benehmen jener Passanten des Stephansplatzes nicht. Man lässt in einer Weltstadt jede Modenärrin nach ihrer Fasson selig werden. Wahr ist freilich, dass diese neueste Mode der zusammengeschnürten Kleider in hohem Grade geschmacklos ist, und das mag der höhnenden Menge als kleine Entschuldigung angerechnet werden.