Gelesen von Stefan Franke
Zweimal habe ich jetzt in der Elektrischen das Vergnügen gehabt, mir vis-à-vis ein Liebespaar sitzen zu sehen, und war beide Male erstaunt, welch ein Mangel von Schicklichkeitsgefühl diese jungen, der Kleidung nach den besseren Ständen angehörenden Leute hatten. Das war ein Gedrücke und Geküsse, welches auf andere einfach widerlich wirkte und jedenfalls in der Elektrischen nichts zu suchen hat.
Vielleicht kommen meine Zeilen den betreffenden oder anderen Pärchen zu Gesicht, und darum sei noch einmal der Mahnruf erhoben: Zärtlichkeiten gehören ins Haus und nicht vor einen Zuschauerkreis, der unter Umständen die Sache weit weniger harmlos auslegt als sie ist.
Auch sonntags abends in den Vorortzügen sieht man solch „Geknutsche“ oft. Haben die jungen Mädchen, die es sich gefallen lassen, eigentlich gar kein Schamgefühl? Liebeszeichen und Zärtlichkeiten sollten doch anständigen Menschen zu heilig sein, um sie vor den Augen der Menge auszutauschen und dadurch zu profanieren.
Friedrich S.
25. September 1910